Der Gast

Der Gast, Kurzgeschichten

Monsieur Melmoth! Er klopfte etwas lauter an die Tür.
Es rührte sich nichts.
Kurz darauf rief er mit gedämpfter Stimme: Sebastian! Hören Sie mich?
Er starrte die Tür an. Im Schein der Petroleumleuchte bemerkte er unwillig, dass der Lack auch hier an vielen Stellen abgeblättert war. Das Treppenhaus, nein das ganze Hotel, war in einem schlechten Zustand. Er seufzte. Er wusste nicht, woher er das Geld für die Renovierungen nehmen sollte.
Jetzt hämmerte er mit der ganzen Faust. Sebastian, nun öffnen Sie schon!
Auch wenn er den richtigen Namen seines Gastes auf Zimmer Nr. 13 kannte, so blieb er doch aus Gewohnheit bei der Anrede, unter welchem sich dieser vor Monaten eingetragen hatte.
Seit zwei Tagen haben Sie sich eingeschlossen, was ist denn los mit Ihnen? Öffnen Sie!
Von innen hörte er Geräusche, Holz knarrte und endlich drehte sich der Schlüssel. Sebastian schlurfte sogleich zurück ins Bett.

Mir ist übel und ich habe Kopfschmerzen, jammerte er. Er zog das Leintuch über die Augen, als Jean Dupoirier die Vorhänge und die beiden Fensterflügel öffnete. Obwohl es ein sonniger Nachmittag war, gab der kleine Innenhof nur wenig Licht ab in das Zimmer. Es stank und die Luft von draußen, warm und stickig, die nur bedingt einströmen konnte, vermochte kaum etwas verändern. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sich der Hotelbesitzer um. Kleidungsstücke, Bücher, Flaschen, schmutziges Geschirr, alles lag wild herum, die armselige Habe eines Trinkers, eines unglücklichen Poeten.
Durst, kam es kläglich unter der dünnen Decke hervor. Wasser, bitte.
Jean stellte die Petroleumlampe ab, nahm die Karaffe, die er neben dem Bett fand, ging damit aus dem Zimmer und stellte sie dann gefüllt auf den Nachttisch. Sebastian griff danach und trank gierig daraus.
Jean räumte unterdessen den Stuhl frei und setzte sich nah an das Bett. Mit der Zeitung in der Hand fächelte er sich etwas Luft zu.
Sebastian hielt die Augen geschlossen. Er stöhnte: Es geht mir nicht gut. Was für eine Hitze. Quelle chaleur!
In der Zeitung steht, dass es seit knapp einem halben Jahrhundert keine Hitzeperiode wie diese gegeben hat, entgegnete der Andere, und sie soll noch andauern.
Unter dem Bett bemerkte er die zwei Koffer, von denen er wusste, dass sie voll mit Büchern waren. Mit einem Fußtritt stieß er eine leere Cognacflasche zur Seite.
Kein Wunder, dass du dich so elendig fühlst, dachte er kopfschüttelnd. Sein Blick fiel auf ein Buch direkt neben dem Stuhlbein und während er sich danach bückte, sagte er:
Hören Sie, wegen der Hitze haben sie jetzt die Eintrittspreise gesenkt, zu wenig Besucher. Pierre kann Tickets für 60 Centimes besorgen. Das dürfen Sie sich nicht entgehen lassen. Diese Weltausstellung ist einzigartig, sie bricht alle Rekorde! Und die neue Brücke zu Ehren des Zaren? Splendide, sag ich Ihnen. Ich habe sie mir schon angeschaut. Prächtig, ganz in Ihrem Stil. Eine Extravaganz.
Er lächelte, denn er kannte die wahre Attitüde seines Gastes, seinen Geschmack. Er ließ sich nicht blenden von diesem Elend, das er vor sich sah, von seinen Geschichten, die er erfand, wenn es darum ging, Geld zu erschwindeln. Dass er über seine Verhältnisse lebte, dass er sogar offenherzig, ja eigentlich frech Champagner bestellte, wenn ein Besucher ihn einlud, dass er zu viel trank, … trotz alledem, er konnte sich einer gewissen Bewunderung nicht entziehen, stand im Bann dieser Augen, traurig melancholisch, eines Verlierers, der aber von Dingen sprechen konnte, von denen er selbst noch nicht einmal geahnt hatte, dass es sie gab. Er verzieh ihm sogar, dass er mit der Miete im Rückstand lag, auch wenn er befürchten musste, dass er wohl nie in der Lage sein würde, ihn zurückzuzahlen.
Also, begann er von neuem, die Brücke Alexandre III, wirklich grandios, stellen Sie sich vor – Jean machte dabei eine Bewegung mit dem Arm – ein einziger Bogen aus Metall überspannt die Seine, vergoldete Skulpturen auf riesigen Sockeln und dazu Lüster auf der ganzen Brücke verteilt, Lüster aus Bronze und Kristall. Kristall! Diese neue Architektur, diese neue Kunst, so etwas muss man sich doch ansehen! Auch die Dachkonstruktion des Grand Palais ist nur aus Stahl und Glas gebaut! Die vielen Lichter dort, alles elektrisch, keine Gaslampen mehr, kein Petroleum, keine Kerzen, bald brauchen wir das nicht mehr, man drückt einfach nur noch auf einen Knopf und schon ist es hell!
Rufe und Kindergeschrei drangen durch das Fenster zu ihnen. Er lauschte einem Moment, doch als er bemerkte, dass Sebastian Melmoth unbeeindruckt blieb, fuhr er fort:
Ach ja, und dann noch diese Einweihungsfeier, am Donnerstag, bald geht es los mit der unterirdische Zuglinie! Sie führt quer durch Paris, von Vincennes bis zur Porte Maillot. Ich habe gehört, die Engländer fahren schon seit zehn Jahren eine elektrische Untergrundbahn, sind Sie schon einmal damit gefahren? Sie lebten doch früher in England! Jedenfalls findet das Fest am 19. Juli statt – die Eröffnung der Metropolitain – zwei große rote Lampen beleuchten dort den Eingang , zwei glühende Augen! Also, dieses neue Jahrtausend ist so voller Überraschungen, dabei hat es erst begonnen… Und wissen Sie was, er sah seinen Gast erwartungsvoll an, doch dieser starrte nur teilnahmslos zur Decke, ich spendiere Ihnen eine Fahrt mit dem Riesenrad! Was sagen Sie dazu? Allerdings nur, wenn wir dorthin zu Fuß gehen, zum Champs de Mars ist es zwar ein ordentlicher Marsch, aber das würde Ihnen guttun, etwas Bewegung, besser als faul hier rumliegen. So ein Riesenrad hat es noch nie gegeben, 100 Meter ist es hoch! Stellen Sie sich diese Aussicht vor, von dort oben, Paris zu Ihren Füßen. Und dann das Feuerwerk heute, am Nationalfeiertag, sie haben es doch nicht vergessen? Der große Tag unserer Revolution, unserer Werte, da bleibt man nicht im Bett liegen, das muss gefeiert werden! Sebastian, so seien Sie doch endlich vernünftig!

Er wartete ungeduldig auf eine Reaktion. Gleichzeitig betrachtete er den Titel des Buches, das er noch immer in der Hand hielt; stirnrunzelnd blätterte er darin. Dann vernahm er, kaum verständlich, leise die Stimme seines kranken Gastes:
Und wie er liegt, im Traum verloren, summt das Geschwätz ihm in den Ohren.
Was flüstern Sie da, sprechen Sie deutlicher, Sebastian. Er sah vom Buch auf und musterte den ungepflegten Mann im Bett. Eigentlich eine abstoßende Erscheinung, doch er konnte nicht anders, als sich seiner annehmen.
Ich habe gesagt, Sie sind wie ein irischer Geschichtenerzähler, Sie hören gar nicht mehr auf…
… was heißt irischer Geschichtenerzähler. Sie haben mir überhaupt nicht zugehört. Paris ist im Ausnahmezustand, alle Welt schaut auf Paris. Sie wohnen mitten in Paris. Die tollsten Dinge, die neuesten Erfindungen werden hier gezeigt, vor ihrer Haustür und Sie verschlafen alles. Nur trinken und schlafen, das ist erbärmlich. Und was ist das für ein Buch, Melmoth, the Wanderer? Ein Vagabund, der durch das Leben spaziert, so wie sie, haben Sie deshalb den Namen Melmoth gewählt? Charles Robert M a t u r i n…
… das war mein Großonkel. Er hat dieses Buch geschrieben. Und ich bin tatsächlich ein Wanderer, der hier seine letzte Rast einlegt. Ich bin immer unterwegs gewesen, so vielen Einladungen bin ich gefolgt, in so vielen Städten bin ich gewesen; immer getrieben, von den Wörtern, von Empfindungen und Schönheit. Die Gesellschaft, sie ist mein Elixier! Einst hingen die Leute an meinen Lippen und nun,… sie fliehen vor mir, weil ich ihrer Gesellschaft nicht mehr würdig bin. Pah. Gleichheit! Sie reden von Brüderlichkeit und Freiheit! Seine Stimme nahm einen anklagenden Ton an; er schrie beinahe: Meine Söhne darf ich nicht mehr sehen! Sie haben mir alles genommen, meine Bücher, meine Möbel, meinen Schmuck, meine Kleidungsstücke. Wo ist, verflucht noch mal, mein Pelzmantel, den ich immer trage, wenn ich verreise? Ich liebe ihn, all die schönen Dinge liebe ich – nun ist alles weg! Ich existiere nur noch, Jean, gelebt habe ich in einer anderen Welt! Ich bin… jetzt lachte er höhnisch, ich bin, sozusagen, aus der Mode gekommen. Verstehen Sie denn nicht, die Inspiration von damals kann mir keine Stadt in Glanz und Jubel mehr geben, es ist vorbei. Ich dachte immer, das Leben sei eine Komödie – tatsächlich ist es eine Tragödie, und zwar für die Menschen, die f ü h l e n.
Er richtete sich auf, hustete und trank aus der Karaffe. Dann ließ er sich in das Kissen zurückfallen und fuhr fort.
Ich wollte immer das Leben auskosten, keinen Tropfen seiner Süße wollte ich vergeuden. Ein Pakt. Ich bin verdammt bis in alle Ewigkeit. Paris, für mich ein Seufzer nur noch. Dieses Buch da in ihrer Hand, es ist … es ist eine Schauergeschichte; es begleitet mich wie mein Schatten. Es gibt kein Happy End. Er zog die Mundwinkel nach unten und stieß ein zynisches Klagen hervor. Was die Welt und ich selbst als meine Zukunft auffassten, das habe ich unwiederbringlich verloren. Vor mir liegt nur meine Vergangenheit.
Jean Dupoirier schwieg betroffen, dann sagte er leise: Ich rede von Zukunft und Sie von Vergangenheit. Die Welt liegt noch vor Ihnen!
Jean, mir brummt der Schädel und mein Ohr schmerzt, Sie müssen lauter sprechen. Wie spät ist es eigentlich, habe ich den Lunch verpasst?
Also wirklich, Sie sind unverbesserlich. Er schüttelte den Kopf. Dann ziehen Sie sich was Ordentliches an und kommen runter zum Essen. Es wird noch jemand in der Küche sein. Aber waschen Sie sich vorher. Seine Stimme klang ungehalten. Er ahnte, dass sein Versuch ihn anzuspornen wieder einmal vergeblich sein würde.
Er schloss das Buch und warf es aufs Bett. Und was ist mit dem Vorname Sebastian? Soweit ich verstehen konnte, heißt der Melmoth im Buch John.
Diesen Namen habe ich selbst gewählt. Den heiligen Sebastian, den kennen Sie doch. Er hatte wie ich gelitten, er stand zu seinem Glauben und wurde mit Pfeilen durchsiebt. Auch mir hat ein Pfeil die Brust durchbohrt – ich hatte an die Liebe geglaubt. Ich konnte gar nicht anders, wie sollte ich auch diesen Vulkan bezähmen? Er stöhnte: Diese schwüle Luft ist unerträglich.
Jean Dupoirier gab nicht auf und sagte: Das ist kein Grund sich so hängen zu lassen. Sie müssen raus, unter anständige Leute und etwas tun. Sie könnten arbeiten gehen. Ich kenne da …
Eine abwertende Handbewegung unterbrach seine Rede. Ach, lassen Sie mich doch in Ruhe. Ich bin kein nützlicher Mensch. Das Leben an sich ist schon begrenzt, warum sollte das Tun ebenfalls begrenzt sein? Er richtete sich auf und rief: Ich will unabhängig sein! Er sah seinem Gastwirt in die Augen. Unbegrenzt und völlig frei ist nur der Traum dessen, der ruht und lauscht, wie es ihm gefällt, der in Einsamkeit wandelt und sinnt.
Herr Gott, Sebastian…
… ach Jean, sagen Sie ruhig Oscar zu mir, so wie meine alten Freunde. Und Sie sind ein Freund, ein gütiger Freund, ich weiß es zu schätzen, glauben Sie mir. Sie sind ein wahres Vorbild für die Menschlichkeit. Das Problem ist nur…
… ja?
Er lächelte jetzt verschmitzt: Das Problem ist diese Tapete, schauen Sie sich doch einmal um. Mit dieser grässlichen Tapete lebe ich hier, muss sie ertragen und frage mich, wer von uns beiden zuerst gehen wird. Sie müssten mal renovieren, Jean, damit ich diese Wette gewinnen kann. Sparen Sie sich das Geld für das Riesenrad; die Welt sehe ich sowieso bald von oben.
Jean Dupoirier stand auf. Wir treffen uns unten, sagte er trocken. Er versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Der Koch wird Ihnen was braten, was Gutes! Er sah sich im Zimmer um, … und ich schick Ihnen nachher jemand hoch, der beim Aufräumen behilflich sein wird.
Er nahm die Petroleumlampe und entzündete sie.
Die beiden Männer sahen sich noch einmal an und Oscar zwinkerte ihm versöhnlich zu.
Jean, wie Sie selbst gesagt haben, irgendwann wird es Lichtschalter im Treppenhaus geben, elektrisches Licht für alle. Sie brauchen das Dunkel nicht zu fürchten. Sehen Sie mich an, auch ich fürchte mich nicht.
Jean wollte protestieren, doch dann besann er sich und meinte im Hinausgehen: Man fürchtet sich aber vor Ihnen, Monsieur Oscar Wilde. Also, machen Sie sich endlich fertig, raus aus dem Bett!
Aber ja doch, Patron, Sie haben ja Recht. Ich habe genug geträumt, schöne, süße, verschwenderische Träume der Leidenschaft. Aber, so hören Sie noch, mein lieber Jean, für einen Dichter ist der Traum die einzige, die echte Wirklichkeit, aber die Wirklichkeit selbst ist ein Nichts.
Er hörte die Tür ins Schloss fallen. Der Gedanke an ein gutes Essen munterte ihn auf, er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er wusste, dass er gleich mit Jean und vielleicht mit noch ein paar anderen ein fröhliches Gelage anstimmen würde, in welchem er Anekdoten und Geschichten zum Besten geben konnte. Dupoirier geizte nicht mit Wein. Er grinste, erhob sich und ging zum Fenster. Zuerst sah er hinauf zum Himmel, ein schönes, makelloses Blau, und dann in den Innenhof und dort erblickte er auf den Steinstufen den Küchenjungen beim Federnrupfen. Er ging zurück und suchte hastig nach dem Fläschchen, von dem er glaubte, dass es noch nicht leer war. Er fand es schließlich in seiner Jackentasche und mit einem kräftigen Schluck trank er es aus. Auf dem Weg zum Waschraum fing er unvermittelt an zu pfeifen, unklare Töne zuerst, doch langsam nahmen sie Gestalt an und bald erfüllte eine Melodie den Raum. Schließlich murmelte er den Text dazu, die Parolen der Hymne – le jour de gloire est arrivé – und er sang immer lauter, so lange, bis ihm schwindelig wurde. Er stützte sich am Türrahmen ab, schloss die Augen, doch er lächelte:
Der Ruhm dieser Welt liegt im Duft einer wohlgemeinten, schmackhaften Mahlzeit.

Oscar Wilde verstarb 4 Monate später, am 30. November 1900.

Bettina Ghasempoor, 2010

Paris 2012

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